Im Gedenken an Harry Zingel (✟ 12. August 2009) ..... Alle Dokumente stehen ab sofort zum freien Download zur Verfügung (Redaktionsstand: letzte BWL CD 8/2009) .... Finanziert wird das Projekt via Google AdSense ... Achtung: Es erfolgt keine Aktualisierung der Inhalte ... Es besteht kein Recht auf Support in jeglicher Hinsicht ... Ich wünsche euch trotz alledem viel Erfolg mit der neuen alten BWL CD!!!

Der kostenlose Newsletter
der BWL CD
© Harry Zingel 2001-2009
BWL Mehr wissen,
mehr können,
mehr sein!
Startseite | Copyright | Rechtschreibung | Link mich! | Impressum | Blog

Lernstrategie: Das rote »A«

Im Gegensatz zu vielen anderen Artikeln im BWL-Boten ist dies ein persönlicher Bericht, aber möglicherweise dennoch verallgemeinerungsfähig. Vor einigen Jahrzehnten wäre ich für das, was hier kommt, noch in der Nervenheilanstalt gelandet; ich bin aber der Meinung, daß mich das, was man einst für eine Krankheit hielt, erfolgreich und relativ streßarm durchs Studium gebracht hat.

Das rote »A«

Einst hielt ich es für selbstverständlich, daß der Buchstabe "A" intensiv rot sei, Kochsalz natürlich eckig, und die Zahl "24" wie Schokolade aussehe und schmecke, und über die ersten verständnislosen Blicke habe ich mich sehr gewundert. Inzwischen, und eine Zahl intensiver aber gleichwohl auch schon lang zurückliegender Jugenderfahrungen später weiß ich, daß diese Art der Erfahrung jeder machen kann, der bestimmte Rauschdrogen einnimmt, aber diejenigen, die das in gewissem Maße ständig im Alltag ständig erleben, eher gering an Zahl sind: ich bin Synästhetiker, ich reagiere auf jeden Reiz mit allen Sinnen. So haben Buchstaben und Zahlen für mich intensive und unverwechselbare Farben, und die Töne der Musik kann ich mit Händen greifen, im wahrsten Sinne, denn die von einer Geige gespielte Note ist natürlich glatt wie Seide, während man in den Sound eines Orchesters butterweich hineingreifen kann. Wer wüßte das nicht?

Ziemlich viele!

Es scheint, daß nur wenige Menschen über diese Form der Wahrnehmung verfügen, jedenfalls im Erwachsenenalter. Kinder aber reagieren möglicherweise zunächst immer synästhetisch, aber verlieren diese Fähigkeit im Laufe des Älterwerdens, möglicherweise durch die Erziehung. Und das bringt uns zu der Antwort auf die Frage, was dieser sehr persönliche Bericht im BWL-Boten zu suchen hat: Synasthesie ist nämlich eine hochwirksame Lernstrategie. Die Erziehung sollte sich also auf ihren Erhalt und nicht auf ihre Be- oder Verhinderung richten.

Die neue PIN

Kürzlich erhielt ich eine neue Handy-Karte, und nach einem einzigen Blick auf die neue PIN war klar, daß eine so schön stahlblau-kackbraune Nummer unvergeßlich ist. Nie werde ich bei der Eingabe dieser Zahl Fehler machen, nie brauche ich den Entsperrcode nach dreimaliger Falscheingabe, denn die Farben prägen sich sofort ein. Dennoch kenne ich die lange Super-PIN auswendig, natürlich auch nach einem einzigen Blick. Sowas Buntes ist unvergeßlich... Das gilt natürlich auch für die Geheimzahl meiner EC-Karte, Paragraphennummern in Gesetzen oder Hexadezimaladressen in Programmen und Webseiten: alles, was alphanumerisch ist, ist leuchtend bunt, kann befühlt, betastet, geschmeckt und manchmal sogar gehört werden. So beginnen die Vorschriften zur Buchführungspflicht in einem doch ganz eindeutig gelblichen Zahlenbereich des Handelsgesetzbuches (aber mit leicht blauem Einschlag!), und meine Telefonnummer ist so farbenfroh als wäre sie ein Weihnachtsmarkt. Vergessen unmöglich!

Das limbische System und das Lernen

Die Neurologie ist inzwischen der Meinung, daß Synasthesie eine Funktion des limbischen Systems im Gehirn ist, also des entwicklungsgeschichtlich ältesten Teils des Denkorgans - der für den Schlaf aber auch den Abruf von Erinnerungen oder epileptische Anfälle verantwortlich ist. Während ich an Letzteren zum Glück nicht leide, scheint meine Wahrnehmung nicht standardgemäß zu sein. Schon im 19. Jahrhundert wurde vom Physiker Hermann von Helmholtz postuliert, daß die Wahrnehmung unbewußt geschehe und es daher keineswegs so sicher sei, mit welchem Sinn auf welchen Reiz reagiert werde: und der Synästhetiker hat sozusagen nicht gelernt, immer nur mit einem einzigen "richtigen" Sinn zu antworten, sondern nimmt Umweltreize mit mehreren oder (noch seltener) mit allen Sinnen auf.

Eine neue Lernstrategie?

Lehrer aller Epochen waren der Ansicht, die Schüler würden immer schlechter, eine Diskussion, die durch die PISA-Studie seit einigen Jahren wieder an die Oberfläche der öffentlichen Debatte gespült worden ist. Möglicherweise bietet Synasthesie eine Chance, dieser fatalen Entwicklung entgegenzuwirken. Hierfür müßte eine schon im frühkindlichen Alter einsetzende Didaktik entwickelt werden, die die Sinneswahrnehmungen nicht trennt sondern zusammenführt. Vielleicht würde das alle Menschen befähigen, Zahlen und Fakten auf einen Blick zu lernen: Das Studium lateinischer Vokabeln war für mich immer eine Leichtigkeit, so bunt wie die alten Römer schrieben... und manches "Superlearning"-System baut auf Synästhesie auf (und funktioniert nicht bei Nicht-Synästhetikern). Vielleicht läßt sich das aber verallgemeinern und damit für alle nutzen?

Links zum Thema

Latein in der Schule: vom modernen Nutzen einer alten Sprache (interner Link) | Synästhetiker: Farben hören, Töne sehen (externer Link)


© Harry Zingel 2001-2008
Im Gedenken an Harry Zingel, ✟ 12. August 2009
Zurück zur Hauptseite: http://www.bwl-bote.de