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Handys, Quake und BMW: Erfahrungsbericht eines Dozenten

Ich weiß nicht, was den Amokläufer von Erfurt zu seiner Tat bewegt hat, auch nicht, was der Auslöser war und was der Täter empfand, als er den Menschen ins Gesicht schoß. Andere werden sich darüber Gedanken machen, und die üblichen Schuldzuweisungen und Empfehlungen der Politiker werden wohl nicht lange auf sich warten lassen.

Aber ich unterrichte seit 15 Jahren, und in der Zeit habe ich eine Menge erlebt: neben einer Menge positiver Erlebnisse auch eine ganze Zahl schlimmer Dinger. Nachfolgend berichte ich einige zum Teil recht intensive Erlebnisse, aber werte sie nicht, denn angesichts der Ereignisse letzten Freitag möchte ich mich mit Wertungen zurückhalten. Nur zu denken kann ich nicht aufhören, und vielleicht kommt ja auch bei dem einen oder anderen Leser ein kleiner Denkprozeß in Gang über offensichtliche Mißstände.

1997 bei einer bekannten Erfurter Bildungsfirma (deren Namen ich an dieser Stelle nicht nenne): ich soll in einer Verkäufertruppe betriebswirtschaftliche Grundlagen unterrichten: Lagerwesen, Rechnungswesen, dergleichen mehr. Schnell merke ich, daß es mit den Leuten nicht weit her ist, die Prozentrechnung kann niemand und es fallen Sätze wie "warum diktieren Sie uns nicht einfach etwas?". Ja, das war ernstgemeint. Eine Frau verweigert sich total, sagt in ca. 100 Unterrichtsstunden kein Wort außer "das müssen Sie uns jetzt lernen!" (wörtlich so!) und gibt bei der Klausur ein Kreuzworträtsel ab. Ich muß ihr eine Sechs verpassen, was ich sehr ungern tue. Die beschwert sich dann beim Arbeitsamt, das die Veranstaltung finanziert. und ich werde durch den Arbeitsberater T. achtkantig aus der Veranstaltung geworfen - ohne mir überhaupt nur eine Chance zu geben, meinen Standpunkt darzulegen. Qualitätsmanagement sei das, heißt es. Später erfahre ich, daß meine Nachfolger in dieser Veranstaltung ähnliche Probleme hatten.

Zwei Jahre später, eine andere große Bildungsfirma auch hier in Erfurt. Im "Dunstkreis" eines bestimmten Arbeitsamtlehrganges war es immer wieder zu Diebstählen gekommen, in einem Fall wurden die Speicherelemente aus einem Computer fachmännisch entfernt und das Gerät wieder zugeschraubt. Ich muß mein (eigenes) Notebook in den Pausen mitnehmen oder den Raum abschließen, um nicht selbst bestohlen zu werden. Die Truppe soll auf einen IT-Beruf vorbereitet werden, aber nur ein oder zwei Personen machen mit - der Rest schläft oder stört, immer wieder fallen Nazi-Sprüche, und einem die Popel aus der Nase. Wie es bei diesen Menschen zuhause aussieht, wage ich mir angesichts der klebrigen Arbeitsplätze nicht zu genau vorzustellen. Einer bringt seinen eigenen Laptop mit und spielt laute Musik, oder schwänzt einfach. Die Geschäftsleitung will den Mann rauswerfen - aber das Arbeitsamt stellt sich quer. Diesmal gibt es bei der Klausur kein leeres Blatt, sondern erst einen Krankenschein und dann einen Betrugsversuch, was auch einer Sechs entspricht - und wieder keine Konsequenz. Später erfahre ich indirekt, daß der an dem Tag bei fünf Ärzten war, bis er endlich den gelben Zettel hatte. Einmal steht der fragliche Teilnehmer mit dem Handy direkt hinter der Tür und durch Zufall kriege ich mit, wie der Mann die IP-Nummer des Hauses jemandem durchgibt - nur Minuten später wird ein Hackerangriff gestartet. Ich konnte die Geschäftsleitung noch warnen, aber was die draus machen, weiß ich nicht. Aber mehrfach habe ich das Gefühl, daß Gewalt in der Luft liegt: mehrfach werde ich bedroht, manchmal ist es nur die (unbewußte?) Körpersprache, aber nie passiert wirklich etwas.

Gleiche Firma, anderer Lehrgang: Auszubildende, die durch die Prüfung gefallen sind, sollen für den zweiten Versuch fit gemacht werden. Ich habe aber keine Chance, denn in der zweiten Reihe des Raumes bin ich nicht zu verstehen, in der hintersten nicht mehr zu hören. Handys, Zeitungen oder körperliche Auseinandersetzungen unter den Lehrlingen sind interessanter als Unterricht oder Prüfungsvorbereitung. Ich bin Zeuge mehrerer richtiger Prügeleien und durch Zufall einer Erpressung. Aber den ganzen Tag werden brutale Ballerspiele gespielt, so intensiv, daß das Firmennetz manchmal unter der Last der Gamer zusammenbricht. Nach acht nervtötenden Stunden sieht der Raum aus wie eine Müllhalde. Gescheiterte Existenzen, ich weiß, daß ich denen nicht helfen kann, schon mit gerade mal 18 Jahren. Aber einige kommen frühmorgens mit dem 5er-BMW, und das ist nicht Papis Auto... Und das ist auch nicht der einzige Fall dieser Art: Auszubildende, die sich fast klassenweise jeglicher Mitarbeit verweigern, aber acht Stunden täglich, fünf Tage die Woche Klingeltöne anhören und Handylogos austauschen, oft über teure 0190er-Nummern, das habe ich schon mehrfach erlebt. Ich ahne, was für Karrieren solchen Leuten bevorsteht, aber wer nicht will, dem kann ich nicht helfen, denn ich kann das Pferd nur zur Tränke führen - saufen muß es von alleine...

Mir bleibt nur das Nachdenken. Was macht man mit solchen Menschen? Die mehrdimensionale Führungstheorie von Hersey und Blanchard würde vermutlich autoritäre Verhaltensweisen bei mangelnder Bereitschaft zur Mitarbeit empfehlen. Das scheitert aber oft an entsprechenden Verboten: ich mache u.U. mich schon schadensersatzpflichtig, wenn ich jemandem sein Handy wegnehme, auch wenn es den ganzen Tag piepst und klingelt, von dem zu erwartenden Rausschmiß durch das Arbeitsamt mal ganz zu schweigen. Auch der antiautoritäre Ansatz versagt, denn er setzt voraus, daß die Leute ihre Lebenswirklichkeit selbst gestalten wollen, aber wenn ich das in solchen Klassen versuche, schlafen mir die Leute ein oder werden immer aggressiver, denn die meisten wollen nicht auf andere Art lernen, sondern gar nicht lernen. Und wer versorgt solche Leute? Wenn eine Handylogonummer 3 Euro/Minute kostet, und den ganzen Tag frequentiert wird, kostet ein Tag mehr als mein Wochenhonorar. Von einer Lehrvergütung kann man das nicht finanzieren, und das PS-starke Auto auch nicht.

Es ist was faul im Sozialsystem dieses Landes, und auch im Bildungsbereich. Aber einfache Konzepte greifen nicht, schon gar nicht in Wahlkampfzeiten. Und es gibt keine Patentrezepte, trotz aller Erfahrung nicht. Nur daß es so nicht weitergehen kann (oder sollte), muß man wohl auch nicht extra erklären.


© Harry Zingel 2001-2008
Im Gedenken an Harry Zingel, ✟ 12. August 2009
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