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Nachruf auf die Tour de France: Wie Totgesagte länger leben können

Nach einer beispiellosen Serie von Dopingskandalen ist die rollende Apotheke heute auf den Champs Élysée zum wohlverdienten Ende gekommen, erstaunlicherweise immer noch am Triumphbogen und nicht wie eigentlich verdient vor der Firmenzentrale irgendeines großen Pharma-Herstellers. Die Presse sagt das erfolgreiche Ableben der überkommerzialisierten Sportveranstaltung voraus, doch in jedem Ende steckt auch immer der Keim des Neuen. Jede Krisis ist auch eine Chance. Nur ein bißchen Querdenken muß man, aber darin hat der BWL-Bote ja Übung. Versuchen wir es also erneut:

So offenbart der derzeitig langsam offenbar werdende Doping-Sumpf bei der Tour de France gleich in zweifacher Hinsicht die Perversion und Absurdität des Sports. Waren viele Sportveranstaltungen nämlich in der Antike (und nicht nur in Sparta) militärische Wettbewerbe und damit eigentlich Heerschauen, eine geschichtliche Wurzel, die bei den Schützenfesten auch heute noch offensichtlich ist, hat der organisierte Leistungssport unserer Zeit diese Berechtigung längt verloren, und damit aber auch jeden fundamentalen Sinn: Tiere können nämlich schneller und besser laufen, schwimmen, Springen und was-weiß-ich-noch als der Mensch, der die tierischen Höchstleistungen auch mit allen erdenklichen Doping-Mitteln nie erreichen wird, dafür aber die Grenzen seiner eigenen Konstruktionsmerkmale. Selbst nach menschlichen Maßen gemessene relative Rekorde werden in Zukunft also kaum ohne chemische Unterstützung zu haben sein. Dafür kann ich mit einem mittelprächtigen Auto ohne Anstrengung viel schneller fahren als jeder Radrenn-Sieger: wozu also überhaupt die ganze Aktion?

Da aber genau kommen wir zum perversen Teil der Sache, denn wäre eine Wettkampfveranstaltung eigentlich noch als geselliges Ereignis mit Volksfestcharakter berechtigt, ist der Leistungssport längst von Werbung und Sponsoreninteressen verpestet, die einen Wettbewerb darum führen, wer die Zuschauer mit den dümmsten, aggressivsten oder entnervendsten Werbemaßnahmen belästigt. Ist die diesbezügliche Toleranz der Zuschauer zwar erstaunlich, so ist sie doch auch nicht unendlich - wie die Existenz von Werbeblocker-Software, die es sogar schon für Fernseher gibt, eindrucksvoll beweist.

Auch dieses Potential ist also offenbar mit der endlichen Werbefläche auf Trikot und Gerät ausgeschöpft. Der Sport muß also selbst als Restanhängsel zu unternehmerischen Marktkommunikationsmaßnahmen neue Wege suchen, und dies erfordert, wie immer, fundamentalkritisches Denken. Das freilich fällt schwer. Versuchen wir dennoch mal einen Ansatz.

So schimpft derzeit alles auf die Doping-Sünder, die für Betrüger gehalten werden. Das aber entspringt genau einer veralteten "olympischen" Auffassung von Fairneß, die in Wirtschaft und Politik längst überholt ist, besonders in der Politik. Dabei könnte man die Dopingfahrer auch als Pioniere statt als Betrüger sehen, und das eröffnet neue Wege.

So ist Doping im Sport als (bisher unerlaubte) leistungssteigernde Maßnahme definiert. Warum aber ist das nicht gestattet? Im Sport geht es schließlich - angeblich! - genau gerade um die Leistung, die man eben mit Dopingmitteln steigern kann. Aber schon die modernen Sportgeräte sind, vom Wurfspeer bis zum Rennfahrzeug, Hightech-Instrumente, ohne die sportliche Rekorde nicht im geringsten möglich wären. Was also ist der Grund, HighChem-Maßnahmen beim Menschen als "unerlaubt" abzulehnen anstatt sie als Optimierungsmaßnahmen am ultimativen Sportgerät, nämlich dem eigenen Körper zu fördern? Wenn es akzeptiert ist, daß derjenige siegt, der das bessere Fahrzeug benutzt, warum soll es dann nicht auch akzeptabel sein daß der siegt, der seine körperlichen Ressourcen am besten mobilisieren kann? In anderen Bereichen sind chemische Optimierungsmaßnahmen am menschlichen Körper in Gestalt von Medikamenten ja auch uneingeschränkt akzeptiert: ich dope mich schließlich auch mit Kopfschmerz- oder Diabetes-Tabletten, denn diese bringen etwas herbei (Schmerzfreiheit, niedrige Blutzuckerwerte), was die Natur (mir) versagt.

Oben haben wir den nichtmilitärischen Leistungssport als sinnlos betrachtet, weil Tiere schon konstruktionsbedingt höhere körperliche Leistungen haben. Der Mensch steigert seine Macht über die Natur durch Erfindung technischer Vorrichtungen, die seine körperlichen Leistungsschwächen ausgleichen: so kann der Mensch naturbedingt nicht fliegen, aber Flugzeuge bauen. Nicht schnell laufen, aber mit Fahrzeugen die Schallmauer durchbrechen. Sich nicht viel merken, aber Computer bauen. Maschinen sind eigentlich immer nur Krücken für das, was wir wollen, was uns die Natur aber versagt. Maschinen erheben uns also über die Natur. Das aber ist sinnvoll, denn es steigert unseren Lebensstandard.

Genau das wäre ein neuer Sinn für den Sport: wenn wir schon nicht mehr Heerschauen für die nächste Schlacht veranstalten, was begrüßenswert ist, warum dann nicht biochemische Leistungsschauen auf dem Weg zur Erschaffung "besserer" Eigenschaften gesünderer menschlicher Körper? Das wäre im Kern auch etwas militärisches, denn die Armeen der Welt forschen mit Sicherheit schon lange an der physischen Leistungssteigerung, wenngleich auch aus anderen Motiven. Warum aber könnte was heute "Doping" heißt nicht eines Tages Mittel hervorbringen, die die grundsätzliche Untermotorisierung des Menschen ausgleicht - oder einfach nur seine körperliche Leistung und Ausdauer erhöht? Für eine Vielzahl von Berufen wäre das nützlich. Nur bisher ist es ein Tabu. Aber warum?

Wir sollten uns von überkommenen Vorstellungen lösen und das bisher Undenkbare endlich offen diskutieren. Dazu zwingen uns schon die Umstände, denn die physischen Leistungsgrenzen sind längst erreicht. Wenn wir nicht auf gesellschaftlicher Ebene über Dopingförderung nachdenken, dann wird die Wirtschaft es tun, denn kaum eine Sportart kann ohne leistungssteigernde Mittel noch zu neuen Rekorden kommen. Will man also noch Werbeflächen vermarkten, dann muß man über Doping nachdenken - und darüber, wie man ein Umdenken in der Gesellschaft herbeibringt.

© Harry Zingel 2007; Erlgarten 8, 99091 Erfurt, Tel. 0172-3642082, 0361-2606029, Fax 0361-2118928


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